Clean Eating und kulinarische Keuschheit

Denkanstöße für einen differenzierten Diskurs

– Ein Kommentar von Nadine Filko

 

In meinem neuen Buch “Food CHAINge” schreibe ich anfangs über den kulinarischen G-Punkt, die Genussmomente, die unsere Ernährung definieren, um mich während eines Panels zu “Clean Eating” beim Food Innovation Camp zu fragen, ob die “schmutzige” Lust am Essen bald der Vergangenheit angehören muss. 

 

Clean Eating: Was soll das überhaupt?

Der Begriff “Clean Eating” stößt mir auf, auch wenn es sich um ein anerkanntes Konzept oder Ziel im Labeling handelt. Ich erinnere mich an eine lebhafte Diskussion darüber, ob Kulturfleisch “Clean Meat” heißen dürfe, da dem implizit sei, dass alles andere dann irgendwie dreckig ist. Ein nachvollziehbarer Einwand gegen eine Bezeichnung, die dem Ansinnen der Branche entgegensteht, über Kollaboration einen neuen Markt zu kreieren. Wieso also können wir innerhalb derselben Branche ohne mit der Wimper zu zucken eine Diskussion darüber führen, dass Lebensmittel ein “cleanes” Label brauchen. Grundsätzlich ist die Diskussion über Zusatzstoffe und Gesundheit absolut richtig. Aber wo führt die Verteufelung unserer Convenience-Kulinarik hin? 

 

Was geschah: Thesen im Panel

Werden wir mal konkret. Der Titel des Panels lautete: “Clean Eating mit Innovationscharakter – Ein gutes Produkt hat eine kurze Zutatenliste”. Dagegen ist zunächst einmal nichts einzuwenden. Das Ergebnis ist offen. Ob Ausrufe- oder Fragezeichen, das sollten laut Lia Carlucci, Moderatorin des Gesprächs und Geschäftsführerin des Food Campus Berlin, die Panelist:innen diskutieren. Die Teilnehmer:innen des Panels waren vielversprechend: Ernährungsmediziner Dr. Matthias Riedl, Politikerin Renate Künast (Bündnis 90/Die Grüne), TV-Koch Christian Rach, EatSmarter Geschäftsführer Niklas Reinhardt und Infinite Roots Mitgründerin Cathy Hutz. Es trafen demnach tiefes Know-how und diverse Branchen aufeinander, die auf unterschiedliche Blickwinkel hoffen ließen. Und doch überraschten die Expert:innen mit undifferenzierten Thesen.

 

These 1: “Deutschland isst sich krank”

Diese Worte stammen von Dr. Riedl. Seine Einordnung verarbeiteter Produkte waren von extremer Natur. Tatsächlich bin ich aufgrund seiner Aussagen mit mehr Fragezeichen raus als rein ins Panel. Ich will an dieser Stelle nur ein paar seiner Erkenntnisse teilen: Unternehmen, die beispielsweise mit Erbsen arbeiten, würden nur einen kleinen Teil verarbeiten und den Rest wegschmeißen und verarbeitete Lebensmittel seien Fake Nahrungsmittel. Was das ist? Ich kann es nur erahnen. Wahrscheinlich eine Adaption von Fake News, wobei Lebensmittel ist Lebensmittel oder etwa nicht? Fragen über Fragen. Die Diskussion rund um Inhaltsstoffe ist nicht einfach. Ein Experte, der beim Hersteller neuartiger Proteinprodukte “Redefine Meat” arbeitet, erklärte mir einst im Interview, dass Zusatzstoff nicht gleich Zusatzstoff ist. Bedeutet: Wo bei zwei Produkten derselbe Inhaltsstoff draufsteht, muss zum Beispiel lange nicht auch die gleiche Funktion erfüllt sein. Eine Ordnung in die unübersichtliche Flut der Zusätze zu bringen, ist schwierig. 

Ich bin keine Zusatzstoffadvokatin aber verallgemeinerte Aussagen wie, dass Produkte, die Aromen nutzen, ein Chemiecocktail seien und in die Tonne gehören (meine Interpretation), würde ich infrage stellen. Ein Diskurs in diese Richtung ist nicht nur schwierig, er könnte auch zur Hürde der Transformation mutieren. Wir reden darüber, dass wir transformieren müssen, für den Erhalt der Umwelt aber auch für die Ernährung einer Weltbevölkerung, für die uns irgendwann nicht mehr ausreichend Lebensmittel zur Verfügung stehen. Ich wage mich zu fragen, wie das ohne Verarbeitung, die uns auch haltbare Lebensmittel beschert, funktionieren kann. Fragen aber konnte man leider nicht stellen.

 

These 2: “Zeit ist kein Aspekt”

… oder sollte laut Christian Rach keiner sein, in der Diskussion um allabendliche Kocharien. Schluck, schluck, schluck. Das zu behaupten, ist weit weg von vielen Lebensrealitäten. Schon von dem mir nächsten, nämlich meinem. Nach einem langen Tag vor dem PC hole ich meine Tochter (fast als letzte) aus dem Kindergarten, gehe dann einkaufen, während sie an meinem Ärmel zerrt und darüber diskutiert, welche (uncleanen) Produkte heute für sie im Einkaufswagen landen und was wir noch Schönes machen. Wie oft dieses “Schöne” dann kochen ist, kann man sich jetzt wahrscheinlich denken. Die töchterlichen Vetos gegen meine Unabkömmlichkeit sind groß. Ich gestehe: Ich mache sehr gerne Fischstäbchen oder Spinatsticks. Bedeutet: Es ist in vielen Familien weder die Zeit, noch die Geduld und manchmal schlichtweg auch nicht das Geld für eine Ernährung da, wie wir sie in unserer Bubble gerne diskutieren. Auch deshalb denke ich derzeit über einen neuen Realismus in der Ernährung nach. Echte Lebensrealitäten, reale Ernährungsszenarien und damit eine Strategie der Transformation, die entlang der Lebensrealitäten von Menschen kreiert wurde, die nicht über die gerne besprochene Unendlichkeit weicher Ressourcen verfügen, die es braucht, um sich “clean” zu ernähren.

 

These 3: “Bildung dauert zu lange”

Das will ich keine:r Panelist:in in genau diesen Worten in den Mund legen, aber es wurde diskutiert, dass es zwar unbedingt notwendig sei, dass sich das Bildungssystem reformiert, aber dies würde (zu) lange dauern. Grund genug also, jetzt anzufangen. Oder? Auch die Industrie sei da in der Verantwortung. Eine wichtige Erkenntnis. Damit diese aber Früchte trägt, muss sich der Wandel auch lohnen. Wie genau das gewährleistet werden kann, weiß ich nicht. Es gibt kein Patentrezept. Wohl aber eine Industrie, die sich ihrer Verantwortung bewusst ist. Dass Bildung und das Vermitteln von Informationen dabei komplexe Unterfangen sind, die man nicht so einfach auf den Weg bringen kann, hat schließlich auch das Panel gezeigt.

 

Was bleibt: ”Der Mut sich seines eigenen Genussverstandes zu bedienen”

… lautet deshalb mein Fazit eines sehr aufwühlenden Panels. Wir brauchen Bildung. Wir brauchen gute Produkte. Wir brauchen die Diskussion über Inhaltsstoffe. Aber bitte differenziert. Oder um es in Renate Künast Worten zu sagen, wir sollten evaluieren “was tut mir eigentlich wie gut”. Also doch zurück zu den kulinarischen G-Punkten? Am Ende wünscht sie sich mehr “Unruhe” oder Bewegung von den Wählern. Für Bewegung hat das Panel in jedem Fall schon einmal gesorgt – wenn auch erst einmal nur gedanklich.

 


 

Nadine Filko
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